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Dürfen Kinder raufen und kämpfen?


Stockkampf auf dem Spielplatz


Kürzlich war ich mit einer Freundin und ihren und meinen Kindern auf dem Spielplatz verabredet. Wir kamen an und alles lief seinen gewohnten Gang: In den ersten Minuten rannte jedes Kind auf ein Spielgerät zu, schwang sich auf ein Wackeltier oder auf die Schaukel, sauste die Rutsche herunter und kletterte am Klettergerüst. Wir Mütter nutzen natürlich die Selbstbeschäftigungsphase, um ein bisschen zu ratschen und beobachteten die vier aus den Augenwickeln.

Nach ein paar Minuten fingen die drei größeren Kids (8, 6 und 4 Jahre alt) an miteinander zu spielen. Sie schnappten sich einige der auf dem Spielplatz herumliegenden Stöcke und fingen an diese in den Kiesboden zu rammen und etwas damit bauen. Langsam entstand so etwas wie ein kleines Tipi. Stolz betrachteten wir beiden Mütter das achso kreative und erlebnispädagogische Rollenspiel.


Kinder beim Stockkampf

Nach einer Weile wurde von den dreien beschlossen, sie seien nun wilde Tiere und das Tipi ihr Unterschlupf. Wir Mütter unterhielten uns weiter und bespaßten dabei meinen 2-jährigen. Doch plötzlich wurde es in Richtung des Tipis lauter und wir sahen, dass die beiden Jungs (6 und 4 Jahre alt) jeweils einen Stock in der Hand hatten, laut fauchend mit diesen aufeinander losgingen und diese als Schwerter einsetzten. Ich merkte wie in mir ein beklemmendes Gefühl – wahrscheinlich der Mutterinstinkt – hoch kam. Ich sah vor meinem inneren Auge gleich Stöcke in Kinderaugen stecken und verspürte sofort den Impuls das Kampfspiel der beiden Jungen zu unterbrechen. Da fielen mir die Worte meines Mannes ein, der so oft zu mir sagte: „Lass die Kids mal machen, die müssen auch mal raufen und kämpfen!“. Gleichzeitig erinnerte ich mich an meine pädagogische Ausbildung in der ich ebenfalls lernte, dass es normal ist, dass Kinder miteinander toben und kämpfen und das auch einen Raum in ihrer Kindheit haben soll. Hin- und Hergerissen schaute ich zu meiner Freundin (auch pädagogisch erfahren – nämlich Lehrerin) hinüber und sah sofort in ihren Augen, dass sie ähnlichen Überlegungen nachging wie ich. Wir beratschlagten uns kurz und überlegten, wie wir handeln sollten. Kurzum entschieden wir uns diesmal nicht „muttertypisch“ zu handeln und die Jungs mal machen zu lassen.


Der Stockkampf ging also in die 2. Runde. Die beiden Jungen fochten mit ihren Stöcken weiter und machten dabei entsetzlich laute Tiergeräusche um den Gegner einzuschüchtern. Ganz entsetzt schaute uns die 8-jährige Tochter meiner Freundin an. Ihr Weltbild schien für einen Moment aus den Fugen geraten zu sein. Warum griffen denn die Mütter nicht ein? Sie hatte doch gerade erst in ihrem Anti-Gewalt-Training in der Schule gelernt, dass man nicht schlagen und kämpfen soll. Plötzlich sah ich wie mein 2-jähriger Sohn gerade versuchte in Richtung Ausgang des Spielplatzes stiften zugehen. Da er auf meine Aufforderung Stehen-zu-bleiben nicht reagierte, blieb mir nichts anderes übrig, als einen Spurt einzulegen und ihn wieder einzufangen. Als ich mit dem strampelnden Kleinkind auf meinem Arm zurückkam, sah ich wie mein älterer Sohn gerade auf dem Jungen meiner Freundin saß und ihm den Stock in die Wange bohrte, obwohl dieser inzwischen weinend schrie, dass mein Sohn sofort aufhören solle. Augenblicklich schritt ich ein, holte meinen 6-jährigen von dem 4-jährigen herunter und brach das wilde Tierspiel ab. Daraufhin hatten wir zwei übereinander schimpfende Jungs vor uns stehen, die nie wieder miteinander spielen wollten. Leider gelang es uns auch nicht mehr in der übrig geblieben Zeit unseres Spielplatzaufenthaltes die beiden zu einem weiteren gemeinsamen Spiel zu überreden. Sie wollten nur noch alleine schaukeln, rutschen, ... So gingen wir alle mit einem komischen Gefühl im Bauch nach Hause.


Nach dem Spielplatzbesuch blieben mir einige Fragen im Kopf: War es trotz der scheinbar negativen Erfahrung unserer beiden Jungs richtig sie so kämpfen zu lassen und haben sie dennoch was dabei gelernt?

Wie kommt es eigentlich, dass wir Mütter (bestimmt auch einige Väter) in der heutigen Zeit meist so vorsichtig sind und Angst haben, dass unseren miteinander raufenden und kämpfenden Kindern gleich etwas Schlimmes passieren könnte? Warum lassen wir sie diese Erfahrung nicht selbst machen? Welche psychologischen Theorien stecken da dahinter?

Gibt es Möglichkeiten das Raufen und Kämpfen für unsere Kinder öfter zuzulassen und welchen gesteckten Rahmen benötigen sie dann dafür? Wenn euch das interessiert dann lest weiter - jetzt aber:


Blog maldurchdacht

Wir lernen aus Erfahrungen

Wenn wir Menschen Erfahrungen machen werden laut dem Sozialpsychologen Roy F. Baumeister (2001) negative Ereignisse besser und länger erinnert als positive. Weil wir Erwachsene bereits eigene Erfahrungen beim Kämpfen und Rangeln gemacht oder bei anderen Vorbildern (beispielsweise in einem Film) gesehen haben, wird von uns die mit der negativen Erfahrung gemachte Emotion generalisiert und auch auf zukünftige Erfahrungen projiziert. Je mehr Erfahrungen wir mit einer Situation machen, desto spezifischer und detaillierter werden unsere Erwartungen und diese bestätigen sich immer wieder selbst. So bildet sich eine Wahrnehmungserwartung heraus.

Ist die gemachte Erfahrung negativ, versuchen wir diese künftig zu vermeiden und etwas für uns Vorteilhafteres zu erreichen. Da wir Eltern unsere Kinder lieben und nur das Beste für sie wollen, versuchen wir ein für uns potenziell negatives Ereignis auch für sie zu vermeiden. Wir Eltern sind also im Vermeidungsfokus (kein Stock im Auge). Unsere Kinder, die zum ersten Mal einen Stockkampf beginnen, stecken allerdings voller Emotionen und Fantasie in einem Rollenspiel und kämpfen momentan als Ritter in ihrer erdachten Welt. Sie befinden sich im Jetzt-Fokus und haben gerade Spaß am Stockkampf und wollen sich erproben.

Wieso trauen wir ihnen nicht zu selbst ihre Erfahrungen zu machen, beispielsweise dass es dem Gegner weh tut, wenn man den Stock zu fest schlägt und dieser wahrscheinlich ebenfalls fester zuschlagen wird? Wenn Kinder diese Erfahrungen selbst machen können und man als Erwachsener das Erfahrene nochmal im Nachhinein mit ihnen bespricht, dann erhöht es die Wahrscheinlichkeit, dass das Erlernte vom Kind angenommen wird und es in Zukunft erst gar nicht zu einer eskalierenden Erfahrung (Stock im Auge) kommen wird.

Wir Eltern sollten also unseren Kindern mehr zutrauen und sie mal machen lassen. Dabei ist es aber wichtig abzuwägen, ob tatsächlich gleich etwas Schlimmes passieren wird oder vorerst nicht. Ist das gezeigte Verhalten des Kindes wirklich schon gefährlich oder kann das Kind die Erfahrung selbst machen? Um diese Frage zu beantworten ist es wichtig, das individuelle Kind anzuschauen und sich zu fragen, ob es bereits in der Lage ist das richtig einzuschätzen. So haben wir Mütter auf dem Spielplatz beispielsweise entschieden, dass es wohl in Ordnung sei, die beiden Jungen erstmal mit dem Stock kämpfen zu lassen. Als mein Sohn aber auf seinem jüngeren Freund saß und seinen Machtunterschied sichtlich ausnutzte (ihm den Stock in die Wange bohrte), obwohl sein Gegner schon "Aufhören!" brüllte, nahm ich an, dass er nicht mehr in der Lage war diese Situation richtig einzuschätzen und habe den Stockkampf der beiden Jungen unterbrochen. Mit dem Abstand den ich heute habe, denke ich trotzdem, dass die beiden etwas dabei gelernt haben.


Kinder lernen beim miteinander raufen und kämpfen

Wenn Kinder miteinander raufen oder toben, bauen sie ihre psychomotorischen Fertigkeiten aus und machen hierbei wichtige Erfahrungen. Sie lernen spielerisch den Umgang mit Nähe und Distanz und können somit eigene Grenzen und die des Gegners entdecken. Sie erfahren mal stark oder schwächer zu sein in der Auseinandersetzung mit anderen Kindern und spüren Kraft und Ausdauer. Sie üben Fairness, Regeln und sich bei Grenzverletzungen zu streiten und wieder zu vertragen. Durch diese Erfahrungen können sie ein positives Selbstbildes entwickeln und stabilisieren das Vertrauen in sich und andere.

Kinder raufen und kämpfen

Darüber hinaus lernen sie mit Impulsen umzugehen und Kanäle für ihre Aggression zu finden. Wenn Kinder fair kämpfen ist diese als positive Energie zu sehen. Aggression und Gewalt sind hier also nicht das gleiche. So kann Kindern ein sinnlich erfahrbarer Zugang zu den Regeln des respektvollen, fairen Umgangs miteinander vermittelt werden. Das lernen wir Menschen bereits im Kindergarten- und Grundschulalter. Die erarbeiteten Regeln und Erfahrungen können von Kindern in dieser Altersklasse gut aufgenommen und im Laufe der Zeit auf spätere Konfliktsituationen im Alltag übertragen werden.


Es ist also normal, dass Kinder miteinander toben und kämpfen und dieses Verhalten auch einen Raum in ihrer Kindheit hat. Leider werden diese normalen Impulse in unserer Gesellschaft oft schon im Keim erstickt, sodass die Unterscheidung von Spiel und Kampf nicht geübt werden kann. In den meisten Fällen versuchen Erwachsene körperliche Auseinandersetzungen zu verhindern indem sie sagen: „Toben ist doof!“, „Wir kämpfen nicht.“ Oder es gibt sogar geschlechtsstereotype Zuordnungen wie: „Mädchen kämpfen/toben nicht!“ Sobald diese Maßregelungen allerdings durch Erwachsene wegfallen, treten bei den Kindern angestaute Aggressionen oft in unbeobachteten Situationen dann umso gewaltvoller und unkontrollierter auf. Der Sportpädagoge Wolfgang Beudels (2008) belegt sogar, dass faires Ringen und Raufen im Kindergartenalter gewaltpräventiv für das spätere Leben wirken kann. Daher werden in Kindergärten und Grundschulen immer häufiger neben Konfliktlösungstrainings auch Projekte zum „Fairen Raufen“, wie das gleichnamige Projekt der AWO Erziehungsberatungsstelle Augsburg (unter der Leitung von Susanne Hirt) angeboten.


Wie können wir unseren Kindern faires Raufen ermöglichen?

Für eine gesunde Entwicklung von Heranwachsenden ist es also unglaublich wichtig, dass sie Rangel- und Rauferfahrungen machen können. Wie können wir als Eltern unsere Kinder zu diesen Erfahrungen ermutigen und was müssen wir dabei beachten?

Wichtig ist es, dass man im Vorfeld zusammen mit den Kindern Regeln für das faire Raufen aufstellt und diese bespricht, wie zu Beispiel:


  • Jedes Kind macht freiwillig mit.

  • Es raufen immer nur zwei Kinder miteinander.

  • Der Raufpartner darf nur am Oberkörper, an den Armen und Beinen angefasst werden.

  • Es darf nicht in den Bauch geboxt und geschlagen werden.

  • Es darf nichts gemacht werden, was einem weh tut.

  • Es werden keine Schimpfwörter benutzt.

  • Wenn jemand sagt, dass er aufhören möchte, wird das Raufen sofort beendet. Hierfür können Zeichen ausgemacht werden.

  • Start- und Stoppsignale des Erwachsenen werden beachtet.

  • Es ist auch ratsam die „Raufzeit“ nach einer kurzen Weile (ca. zwei Minuten) mit einem Stoppsignal zu unterbrechen und die Aktionen der Kinder wertschätzend (wie ein Sportmoderator) zu kommentieren: „Laura, du hast geschickt gekämpft, indem du…!“ - „Lukas, Du setzt deine Kraft super dosiert ein.“ – „Laura du bist sehr rücksichtsvoll und fair!“- „Lukas traut sich mit der viel größeren Laura zu raufen. Sehr mutig!“ – „Super, du traust dich laut Stopp zu sagen!“…

Kindern macht es auch Spaß mit Erwachsenen zu toben und sie können dadurch die gleichen Erfahrungen wie beim Raufen mit Gleichaltrigen machen. Zudem kann es für sie sehr verblüffend sein, wenn sie gelegentlich auch mal die Oberhand gewinnen und die sonst vorherrschende Machtverteilung (Erwachsene sind stärker als Kinder und sagen wo es langgeht) umkehren können.

Also Eltern (vor allem Mütter), tobt öfter mit euren Kids und lasst diese auch häufiger kontrolliert mit anderen Gleichaltrigen raufen und kämpfen! Kinder brauchen einfach diesen Raum für das wilde Spielen.



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